Kopfschmerzerkrankungen: Herausforderungen

1. Kopfschmerzerkrankungen – eine grosse Belastung für Betroffene und die Gesellschaft

Primäre Kopfschmerzerkrankungen, hauptsächlich Migräne, Spannungstyp und Cluster sind weit verbreitet, unterdiagnostiziert, unterbehandelt und hochstigmatisiert. Sie gelten aufgrund ihrer hohen Prävalenz, Chronizität, Komorbidität, Spätfolgen und ihrer erheblichen Behinderungslast für die Betroffenen als ernsthafte globale Gesundheitsprobleme 1,2,3a. Spannungstypkopfschmerzen und Migräne belegen Platz 2 und 3 der weltweit am meisten verbreiteten Krankheiten 4. In der Schweiz leiden geschätzt über 1 Million Menschen an Migräne unterschiedlicher Ausprägung: jede 5. Frau, jeder 14. Mann und jedes 10. Schulkind (mit zunehmender Tendenz) 5,6, also mehr als Diabetes, Asthma und Epilepsie zusammen 7. Zusätzlich haben über 200'000 Menschen tägliche Kopfschmerzen, oft aufgrund von Kopfschmerzmittel Übergebrauch 8.

Kopfschmerzerkrankungen sind für mehr als 75 % aller durch neurologische Erkrankungen bedingten Jahre mit Behinderung verantwortlich, einschliesslich Schlaganfall, Demenzerkrankungen, Morbus Parkinson, multipler Sklerose, Epilepsie u. a. 3b. Migräne ist weltweit die häufigste Ursache für Krankheitsbehinderung bei unter 50-Jährigen 9 und ist  die  die teuerste der rein neurologischen Erkrankungen, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass andere primäre Kopfschmerzen ebenso hohe Kosten verursachen könnten wie Migräne 10. In der Schweiz werden die sozio-ökonomischen Kosten für Migräne auf über 600 Millionen Franken pro Jahr geschätzt 11, zudem haben Migränepatienten ein erhöhtes Risiko für Schlaganfall, Herzerkrankungen, Epilepsie, Depression, Angsterkrankungen sowie für chronische Schmerzen 12.

2. Umgang und Betreuung von Kopfschmerzerkrankungen

Trotz dieser beeindruckenden Fakten bagatellisiert, die Öffentlichkeit und die Mehrheit der Gesundheitsfachleute primäre Kopfschmerzen als triviale Beschwerde, als eine Entschuldigung für Fehlzeiten und dass einfache Analgetika zur Behebung ausreichen. Bei den Betroffenen selbst ist oft die Sorge um Stigmatisierung und Selbstzweifel die grösste Hürde für eine fachmedizinische Beratung 13. Kopfschmerzen, Lichtempfindlichkeit, auch Übelkeit und Schwindel, sind typischerweise nicht für andere Menschen sichtbar. Menschen mit Migräne werden ebenso stark stigmatisiert wie Personen mit Epilepsie oder Panikstörung 14.
Obwohl Kopfschmerzerkrankungen behandelbar sind, klar definierte Kriterien für die Diagnose von Kopfschmerzen frei verfügbar sind, nationale Konferenzen und Meetings sowie unzählige regionale kleinere Seminare zu Behandlungsrichtlinien durchgeführt wurden und die medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapien, sowie das Selbstmanagement Angebot auf einem hohen Level stehen, ist die Versorgung der Betroffenen laut aktuellen Studien besorgniserregend:

  • Bei populationsbezogenen Stichproben aus 10 europäischen Ländern lag die Zahl derer, die wegen Migräne einen Hausarzt bzw. Spezialisten konsultiert haben unter 20% 15
  • Etwa ein Drittel der Betroffenen wurden von den Grundversorgern nach evidenzbasierten Behandlungsrichtlinien zielgerecht behandelt 15
  • Die zweckmässige Versorgung der Stichproben, die bei Selbsthilfeorganisationen erhoben wurden war deutlich besser 15.
  • In allen Stichproben waren die Patienten, die sich ausschliesslich mit Selbstmedikation behalfen am schlechtesten versorgt 15.
  • Über 50% der Migräne Betroffenen erhalten erst nach über 5 Jahren eine korrekte Diagnose. Es werden wegen Unkenntnis der diagnostischen Kriterien für Migräne bei über 50% teure und unnötige diagnostische Untersuchungen verschrieben, die zusätzlich Ressourcen im Gesundheitswesen verschwenden 16,17.Bei Clusterpatienten («suicidal headache», extrem heftige Kopfschmerzen) ist in Europa die Dauer bis zur korrekten Diagnose im Durchschnitt 5,3 ± 6.4 Jahre 18.
  • Weniger als 30% der Betroffenen kennen Ihre Diagnose und rund 70% behandeln sich selbst ohne über die Risiken einer unreflektierten Selbstbehandlung Bescheid zu wissen und zweckmässige Therapien zu kennen. Nur 14,5% wurde jemals empfohlen, die Einnahmerate bei akuten Kopfschmerzen zu begrenzen 19 Sie fühlen sich ratlos und die Stigmatisierung und Banalisierung durch das Umfeld führt zu Selbstzweifel und Verlust an Selbstwertgefühl. Psychische Erkrankungen sind bei Kopfschmerzerkrankungen um das 2-3fache erhöht. Depressionen und Angstzustände beeinflussen die Krankheitsschwere (Chronifizierung) und das Behandlungsergebnis (Therapieresistenz, Medikamentenübergebrauch) stark negativ und sind mit einer stärkeren Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung sowie einer zunehmenden kopfschmerzbedingten Behinderung assoziiert. Frühes Erkennen und Behandlung dieser Faktoren sind unerlässlich für eine erfolgreiche Kopfschmerztherapie 20,21,22.

3. Ausbildung der Gesundheitsfachpersonen zu Kopfschmerzerkrankungen

In der Grundausbildung von Medizinstudenten werden weltweit nur vier Stunden für Kopfschmerzerkrankungen gewidmet 23. Die Grundausbildung von Apothekern ist vergleichbar oder noch schlechter 24. Bei den Betroffenen besteht ein enormes Informationsdefizit: das Auffinden umfassender, neutraler und ausgewogener Informationen ist schwierig. Interessensgeleitete, unvollständige, heilungsversprechende und irreführende Informationen sind häufig.
Die WHO fasst den Handlungsbedarf bei Kopfschmerzerkrankungen wie folgt zusammen 25:

‘Das erbärmliche Gesundheitsversagen bei primären Kopfschmerzerkrankungen hat seine Wurzeln in dem Versagen der Edukation auf allen Ebenen und in der daraus resultierenden und weit verbreiteten Mangel an Verständnis und unnötigen nicht adäquatem Ressourcenverbrauch’.

  1. Vos T et al (2012) Years lived with disability (YLDs) for 1160 sequelae of 289 diseases and injuries 1990-2010: a systematic analysis for the global burden of disease study 2010. Lancet 380:2163–2196
  2. Vos T et al (2015) Global, regional, and national incidence, prevalence, and years lived with disability for 301 acute and chronic diseases and injuries in 188 countries, 1990-2013: a systematic analysis for the global burden of disease study 2013. Lancet 386:743–800
  3. Vos T et al (2016) Global, regional, and national incidence, prevalence, and years lived with disability for 310 diseases and injuries, 1990–2015: a systematic analysis for the global burden of disease study 2015. Lancet 388:1545–1602 3b) for 328 diseases and injuries for 195 countries, 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. Lancet 390(10100):1211–1259.
  4. Steiner, T.J., Birbeck, G.L., Jensen, R.H. et al. Headache disorders are third cause of disability worldwide. J Headache Pain 16, 58 (2015)
  5. Stovner LJ, Andree C. Prevalence of headache in Europe: a review for the Eurolight project. J Headache Pain. 2010 Aug;11(4):289-99
  6. Abu-Arafeh I, Razak S, Sivaraman B, Graham C. Prevalence of headache and migraine in children and adolescents: a systematic review of population-based studies. Dev Med Child Neurol. 2010; 52:1088–1097
  7. Headache Disorders – not respected, not resourced. All-Party Parliamentary Group on Primary Headache Disorders. 2010.
  8. Vandenbussche, N., Laterza, D., Lisicki, M. et al. Medication-overuse headache: a widely recognized entity amidst ongoing debate. J Headache Pain 19, 50 (2018)
  9. Feigin VL, Nichols E, Alam T, Bannick MS, Beghi E, Blake N.  Global, regional, and national burden of neurological disorders, 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. Lancet Neurol. Mai 2019;18(5):459–80.
  10. Linde M, Gustavsson A, Stovner LJ, Steiner TJ, Barré J, Katsarava Z, Andree C. The cost of headache disorders in Europe: the Eurolight project. 2012 Eur J Neurol 19(5):703–711
  11. Sokolovic et al. Self-reported headache among the employees of a Swiss university hospital: prevalence, disability, current treatment, and economic impact. The Journal of Headache and Pain2013 14:29.
  12. Jette N, Patten S, Williams J, Becker W, Wiebe S.Comorbidity of migraine and psychiatric disorders--a national population-based study..Headache. 2008 Apr;48(4):501-16...
  13. Stigma Korkmaz S et al. Psychiatric symptoms in migraine patients and their attitudes towards psychological support on stigmatization. J Clin Neurosci. 2019; 62:180-183.
  14. Robert E. Shapiro, Peter B. Reiner, international Headache Congress 2013, Boston, USA,
  15. Katsarava Z et al. Poor medical care for people with migraine in Europe – evidence from the Eurolight study. The Journal of Headache and Pain 2018; 19: 10
  16. Ziegeler et al. Shortcomings and missed potentials in the management of migraine patients -experiences from a specialized tertiary care center. The Journal of Headache and Pain (2019) 20:86
  17. Viticchi G, Silvestrini M, Falsetti L, Lanciotti C, Cerqua R, Luzzi S, Provinciali L, Bartolini M.Time delay from onset to diagnosis of migraine. Headache. 2011 Feb ;51(2) :232-6.
  18. Cristina Voiticovschi-Iosob et al. Diagnostic and therapeutic errors in cluster headache a hospital-based study. J Headache Pain. 2014; 15(1): 5
  19. Steiner TJ, Stovner LJ, Katsarava Z, Lainez JM, Lampl C, Lantéri-Minet M, Rastenyte D, Ruiz de la Torre E, Tassorelli C, Barré J, Andrée C (2014) The impact of headache in Europe: principal results of the Eurolight project. J Headache Pain 15:31
  20. Albers L et al (2014) Potentiell vermeidbare Risikofaktoren für primäre Kopfschmerzen. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 57(8)
  21. Lampl C et al. (2016) Headache, depression and anxiety: associations in the Eurolight project. J Headache Pain 17:59
  22. Lantéri-Minet M, Radat F, Chautart MH, Lucas C.Anxiety and depression associated with migraine:Influence on migraine subjects’ disability and quality of life, and acute migraine management.Pain. 2005; 118:319-326.
  23. Gallagher RM, Alam R, Shah S, Mueller L, Rogers JJ (2005) Headache in medical education: medical schools, neurology and family practice residencies. Headache J Head Face Pain. 45(7):866–873
  24. Richard G Wenzel, Mindy R Neidich, Headache Education in Colleges of Pharmacy, Annals of Pharmacotherapy , May 2002, 36(4):612-6
  25. World Health Organization. Atlas of headache disorders and resources in the world 2011